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Wibke Bruhns über Gertrud Seehaus


Gertrud Seehaus ist immer ein Gewinn. Ich ziehe ihre Bücher aus dem Regal, ihre Gedichte, die Theaterstücke, und ich lese mich sofort fest. Dabei steht bei mir nicht annähernd alles, was sie geschrieben hat, aber vieles durfte ich sehen, bevor es zu Büchern wurde.

Sie ist eine spät Berufene, fing das Schreiben erst an, als ihr vielfältiges Leben sie schon herumgewirbelt hatte von der Schauspielerei und den vielen Sprecher-Aufgaben – mein Gott, was kann sie sprechen! Hörspiele, Features, Lyrik – bis zum Pädagogik-Studium und anschließendem Lehrerberuf bei schwierigen Kindern in Grund- und Hauptschulen. Die Polarisierung der 60er und 70er Jahre erlebte sie mittendrin mit scharfem Gespür für falsche Töne, wachsam gegen Übergriffe aller Seiten, hoch sensibilisiert, niemals einzufangen von modischen Strömungen.

Sechs Jahre in Jerusalem – ihr Mann, deutscher Jude mit israelischem Paß, war dort Repräsentant der Friedrich-Naumann-Stiftung – haben ihre empfindlichen Sinne aufgefüllt mit Geschichte und Geschichten. 1984 erschien der erste Roman von Gertrud Seehaus: „Lisa und Anatol“ – ein Frauenbild, wie fast alles, was sie beschreibt. Immer geht es um den Weg der Selbstfindung von Frauen, um ihre Wut, ihre Einengung. Es geht um die Suche nach dem eigenen Ich, um Widerstand und Hilflosigkeit. Gertrud Seehaus schreibt über Macht und die Ohnmacht der Ausgelieferten. Häufig sind jüdische Biographien bestimmend für die Inhalte, die Last der Erfahrungen, die Einsamkeit der übrig Gebliebenen. Und letztendlich geht es, manchmal, auch um Versöhnung.

Man lerne „Schreiben durch Schreiben“ heißt es 1985 in „Katzengesang und Eselsschrei“, Erzählungen, die sich vor dem Hintergrund Jerusalems entwickeln, in und mit dieser Stadt und ihren vielen Schichten, deren wechselnde Ebenen stets die Horizonte verschieben. Schon hier ist zu spüren, wie die Genauigkeit, die Nuancierung der geschriebenen Sprache die Autorin vorwärts treiben. Viel mehr noch ist das der Fall bei „Gruß an Ivan B.“ aus dem Jahr 1987.

Das ist ein furioses Buch, die Geschichte der Vergewaltigung der Protagonistin durch zwei Polizisten in Paris, die minutiöse Schilderung einer heillosen Verletzung, von der Autorin in Ich-Form erzählt. Wie sie ihre wachsende Fremdheit gegenüber Männern erfährt, wie selbst ein männliches Kind, ein kleiner Junge, sie aus der Fassung bringt, wie die Entfremdung von sich selbst sie vereinsamen läßt in ihrem äußerlich unveränderten Umfeld. Das ist ausgelotet bis in die kleinsten Verästelungen weiblicher Beschädigung. Die Urangst aller Frauen vor männlicher Gewalt, der Verlust allen Vertrauens, das Abhandenkommen der eigenen Identität – alles schiebt sich über einander, in einander ohne Pathos.

Gertrud Seehaus ist nie pathetisch. Sie biedert sich nicht an. Ihr genauer Blick in die Psyche ihrer Figuren erlaubt keine Redundanz, sie verzettelt sich nicht. So ist auch „Der Pokal des Riesen“ aus dem Jahr 1996 zwar eine höchst verschlungene Geschichte dreier Figuren, die zunächst nichts mit einander zu tun haben. Aber ihre weit ausholenden Bögen bewegen sich zielstrebig auf einander zu – ein kunstvoll gebautes, wundervoll schlüssiges Buch, das wiederum die Unvereinbarkeit einander fremder Leben zum Thema hat.

Im gleichen Jahr entsteht das Theaterstück „Die Zeit im Kopf“, im Januar 1997 am Theater der Stadt Wuppertal uraufgeführt. Hier begegnen wir jenem Ivan B., der den Titel bestimmt des oben beschriebenen Romans. Ivan Blatny, bei Kriegsende eine der großen Hoffnungen unter den tschechischen Lyrikern, hat sich 1948, nach dem kommunistischen Putsch in der CSSR, während einer Studienreise in England von seiner Delegation abgesetzt. Aus Angst vor stalinistischer Verfolgung, der Freunde und Weggefährten zum Opfer fielen, drehte er durch und landete in einem englischen Irrenhaus. Dort wird er vergessen, in seiner Heimat hält man ihn für tot. Erst eine pensionierte Krankenschwester begreift, daß Ivan Blatny nicht verrückt, daß er wirklich ein Dichter ist. Sie sorgt dafür, daß dreißig Jahre später, 1979, wieder ein Lyrikband von ihm erscheint.

In dem Roman „Gruß an Ivan B.“ ist der Dichter eine Metapher für die Einsamkeit der Ich-Erzählerin, für den Verlust ihrer Identität in der veränderten Wirklichkeit. In dem Theaterstück gibt es Ivan Blatny wirklich in seinem Irrenhaus, wo er sich geschützt fühlt vor der realen Bedrohung, nicht aber vor den Bildern seiner Ängste. Es bleibt unentschieden, welche Welt die seine ist, wie in den Roman bleibt unentschieden, welche Wirklichkeit zählt.

Das ist auch nicht ausgemacht in dem vorerst letzten Buch von Gertrud Seehaus: „Die Lebensliste“, erschienen 2003. Wieder finden wir einen bunt gewürfelten Kosmos vor, diesmal rund um Madame Elsa, eine alte Jüdin. Sie versammelt höchst heterogene Menschen um sich in ihrer Wohnung: die Ich-Erzählerin Camilla, so eine Art Haushälterin, den alten Backgammon-Partner Boris Perlmutter, den Studenten der Theaterwissenschaft Florian. Es kommen dazu Linda und ihre 9jährige Tochter Julia, beide aus der Ukraine, der dazugehörige Mann Alexej, vor dessen Prügeleien Linda zu Madame Elsa geflohen war. Im Hintergrund brüllt auf polnisch Ivar Simonson durch ein Stockholmer Telefon.

Jede dieser Figuren hat eine eigene Geschichte, dazu Geschichten von Menschen, die zu ihnen gehören – ich kenne kaum jemand, der so schlüssig verschiedene Leben mit einander verknüpft, der so spaßig, so traurig, so folgerichtig, vor allem so klug ganz Entferntes auf einander zuführt. Das ist perfektes Handwerk, sowieso. Es ist vor allem Sprache, Denken, Nachempfinden von wirklichem Leben. Gertrud Seehaus sieht es, spürt es, für sie ist ein Gang über die Straße Stoff, der erzählt werden muß. Ich wünsche mir mehr davon.

Berlin, im März 2006